Nach jahrelangem Einsatz des CorA-Netzwerks, der Initiative Lieferkettengesetz und zahlreicher Unterstützerorganisationen ist das EU-Lieferkettengesetz Realität geworden
Noch im Frühjahr 2024 schien ein Scheitern des EU-Lieferkettengesetzes sehr wahrscheinlich. Eine Blockade der FDP in letzter Sekunde brachte den EU-Prozess ins Wanken. Doch unter anderem dank des Verhandlungsgeschicks der belgischen EU-Ratspräsidentschaft sprach sich am Ende trotz deutscher Störmanöver eine qualifizierte Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten für die Richtlinie aus. Nach zahlreichen Abstimmungen in EU-Parlament und -Rat war das Zittern schließlich am 24. Mai 2024 endgültig vorbei, als die EU-Minister:innen die Richtlinie formell absegneten.
Verbesserungen gegenüber dem deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) sind unter anderem, dass Unternehmen bei Verstößen gegen die gesetzlichen Sorgfaltspflichten künftig zivilrechtlich haftbar gemacht werden können, der risikobasierte Ansatz gestärkt wird und die umweltbezogenen Schutzgüter ausgeweitet werden. Auch die Bedeutung von Wiedergutmachungsmaßnahmen und Einkaufspraktiken europäischer Unternehmen wird hervorgehoben. Zudem müssen Unternehmen einen Klimaplan erstellen und umsetzen, um ihr Geschäftsmodell mit dem Pariser Klimaabkommen in Einklang zu bringen. Gleichzeitig enthält die Richtlinie Vorkehrungen, damit Unternehmen ihre Sorgfaltspflichten nicht einfach auf Zulieferer abwälzen können. Kleine und mittlere Unternehmen werden mit weitreichenden Unterstützungsprogrammen und Ausnahmen entlastet.
Die Kurzbewertung der Initiative Lieferkettengesetz gibt einen Überblick darüber, worauf sich die EU-Staaten und das EU-Parlament konkret geeinigt haben. Eine ausführliche rechtliche Bewertung des Gesetzestextes liefert die Analyse von Rechtsanwalt Robert Grabosch im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung. In einem gemeinsamen Webinar haben außerdem Germanwatch und FIAN einen Überblick über die zentralen Inhalte des Gesetzes gegeben.
Mühsamer, aber erfolgreicher Weg zu einer europäischen Regelung
Mit großer Spannung war die Rede von EU-Justizkommissar Didier Reynders erwartet worden, am 29. April 2020 war es so weit: Der Kommissar präsentierte die Ergebnisse der „Study on due diligence requirements through the supply chain“ und kündigte dabei an, den Prozess für eine EU-weite Regulierung der menschenrechtlichen und ökologischen Sorgfaltspflichten in Gang zu setzen. Ähnlich wie in Deutschland das NAP-Monitoring hatte die o. g. Studie für die EU ergeben, dass nur ein geringer Teil der Unternehmen seine Sorgfaltspflichten schon umsetzt. U. a. kam zutage, dass zwar ein gutes Drittel der befragten Unternehmen menschenrechtliche und ökologische Sorgfaltsverfahren anwendet, die meisten von ihnen jedoch nur für ihre direkten Zulieferer. Zugleich ergab die Umfrage, dass über 80 Prozent der Teilnehmenden an der Studie und selbst über die Hälfte der befragten Unternehmen die existierenden Sorgfaltspflichten-Gesetze nicht für wirkungsvoll und kohärent halten. So ist es folgerichtig, dass über zwei Drittel der Unternehmen und gut 80 Prozent aller Teilnehmenden einen Nutzen in einer EU-weiten Regulierung sehen. Auch mit verschiedenen anderen Statements sprechen sich mittlerweile nicht nur die Zivilgesellschaft, sondern auch Investoren und Unternehmen für eine EU-Gesetzgebung aus.
Kommissar Reynders griff diese Forderungen auf und kündigte dabei an, dass sein Legislativvorschlag für Sorgfaltspflichten von Unternehmen sektorübergreifend sein und die gesamte Lieferkette und sämtliche menschenrechtlichen, sozialen und ökologischen Risiken umfassen soll. Er soll für alle Unternehmen gelten, die in der EU ansässig oder im europäischen Binnenmarkt tätig sind, allerdings mit Abstufungen für kleine und mittlere Unternehmen. Die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, die OECD-Leitsätze und die ILO-Konventionen sollen die Basis bilden. Dabei machte Didier Reynders klar, dass eine Regulierung keine Regulierung ist, wenn sie nicht behördlich überwacht und sanktionsbewehrt ist, darunter auch mit zivilrechtlicher Haftung.
Eingebettet ist die Ankündigung von Kommissar Reynders in eine breitere Initiative für nachhaltige Unternehmensführung, die dazu beitragen soll, die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung, die EU-Klimastrategie sowie den European Green Deal umzusetzen, wie das zugehörige Inception Impact Assessment beschreibt. Bestätigt in ihrer Initiative fühlt die EU-Kommission sich durch Studien, die aufzeigen, dass Unternehmen, die bei Nachhaltigkeitsindikatoren gut abschneiden, wettbewerbsfähiger und in der Corona-Pandemie resilienter sind.
Neben der Entwicklung von Regeln für Unternehmen befasst sich die EU-Kommission im Rahmen der Initiative auch mit den Pflichten von Direktor*innen und hatte dazu die Study on directors’ duties and sustainable corporate governance beauftragt, die von EY durchgeführt und am 27.7.2020 veröffentlicht wurde. Die Studie stellt fest, dass von 1992 bis 2018 bei börsennotierten Unternehmen die kurzfristigen Vorteile der Aktionär*innen zunehmend in den Vordergrund vor den langfristigen Interessen der Unternehmen getreten sind. So sind die Auszahlungen an die Aktionär*innen in dem Zeitraum von unter 1 Prozent auf fast 4 Prozent gestiegen. Die Studie identifiziert als Teil der Ursachen dieses “short-termism” die regulatorischen Rahmenbedingungen und Marktpraktiken, die das Verfolgen von Nachhaltigkeit und langfristigen Zielen nicht genügend fördern. Dazu gehören z. B. der Druck der Finanzmärkte, aber auch die Vergütungsstrukturen und Pflichten von Direktor*innen. Die Studie benennt Handlungsbedarf auf EU-Ebene mit dem Ziel, nachhaltige Unternehmensführung zu fördern und zu mehr Verantwortlichkeit (Rechenschaftspflicht / Accountability) für die nachhaltige Wertschöpfung von Unternehmen beizutragen. Dazu sollte die EU Fehleinschätzungen bzgl. des Zwecks von Unternehmen und den Pflichten von Direktor*innen, die kurzfristige Finanzindikatoren über die langfristigen Unternehmensziele stellen, aufklären; die Rechenschaftspflicht von Direktor*innen für nachhaltige Wertschöpfung verbessern; und Unternehmensführung im Sinne von Nachhaltigkeit voranbringen, z. B. bei der Unternehmensberichterstattung, bei der Zusammensetzung und Bezahlung von Vorständen und der Beteiligung von Stakeholdern. Die Studie erörterte dazu verschiedene Maßnahmen von Bewusstseinsbildung über Empfehlungen bis zu gesetzlichen Vorgaben.
Vom 26.10.2020 bis zum 8.2.2021 fand zur Initiative eine Konsultation mit sehr großer Beteiligung der Öffentlichkeit statt. Seit dem Frühjahr ist die Weiterentwicklung des Richtlinienvorschlags, der eigentlich im Juni hatte vorgestellt werden sollten, jedoch ins Stocken geraten. Die Wirtschaftsverbände – die zum Teil das deutsche Lieferkettengesetz mit dem Argument abgelehnt hatten, dass es eine europäische Regelung brauche – wehren sich nun gegen die Rechtsetzung in der EU. Das Corporate Europe Observatory, die European Coalition for Corporate Justice (ECCJ) und Friends of the Earth Europe zeigen die massiven Lobbybemühungen der Wirtschaft in der Studie Off the Hook auf. Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton, der mittlerweile für den Vorschlag mitzuständig ist, bremst die fortschrittlichen Bemühungen des Justizkommissars aus, so dass mit der Veröffentlichung des Entwurfs nun nicht mehr vor Oktober zu rechnen ist. Bei den kontroversen Punkten handelt es sich großenteils um dieselben wie in Deutschland: Die Größe der zu erfassenden Unternehmen, umwelt- und klimabezogene Sorgfaltspflichten, inwieweit Unternehmen für die Missachtung ihrer Pflichten haften sollen, der Einbezug von nicht in der EU ansässigen Unternehmen. Auch die Nachhaltigkeitspflichten von Unternehmensleitungen (directors‘ duties) sind hoch umstritten.
Mittlerweile haben sich jedoch die Vorsitzenden von fünf Fraktionen des Europaparlaments (EPP, S&D, Renew, The Greens/EFA, GUE/NGL), die zusammen die große Mehrheit der Abgeordneten vertreten, in einem Schreiben an Kommissionspräsidentin von der Leyen gewandt und fordern darin, dass der Richtlinienentwurf die Vorschläge des Berichts des Parlaments vom März 2021 berücksichtigt. In diesem Legislativbericht zu Corporate due diligence and corporate accountability hatte das Parlament sich dafür ausgesprochen, dass neben allen großen Unternehmen auch die börsennotierten und die in Hochrisikosektoren tätigen kleinen und mittleren Unternehmen zur Einhaltung der Sorgfaltspflichten verpflichtet werden und dies sowohl auf behördlichem Wege – mit Bußgeldern und dem Ausschluss von öffentlichen Aufträgen und anderweitiger staatlicher Unterstützung – als auch durch wirksame Haftungsregelungen durchgesetzt wird. Auch Vertreter*innen der konservativen EPP hatten dafür gestimmt. In einem Bericht zu Sustainable corporate governance vom Dezember 2020 hatte das Parlament zuvor schon detaillierte Vorschläge unterbreitet, wie Nachhaltigkeitsaspekte gegenüber der kurzfristigen Gewinnorientierung von Unternehmen gestärkt werden und Unternehmensleitungen entsprechende Pflichten auferlegt werden können.
Auch der Europäische Rat fordert in seinen Ratsschlussfolgerungen vom 1. Dezember 2020 die EU-Kommission auf, einen Vorschlag für einen rechtlichen Rahmen für nachhaltige Unternehmensführung und sektorübergreifende Sorgfaltspflichten für Lieferketten zu entwickeln.
Zugleich sind in mehreren EU-Mitgliedstaaten nationale Regelungen in Kraft getreten oder in Entstehung. Frankreich hatte als erstes Land im Frühjahr 2017 mit dem Loi de Vigilance seinen großen Unternehmen Sorgfaltspflichten auferlegt und sie im Falle der Missachtung haftbar gemacht. In der Schweiz scheiterte zwar die Konzernverantwortungsinitiative (KVI) nach einer beispiellosen Schmutzkampagne der Gegner*innen ganz knapp. Dort trat statt dem Vorschlag der KVI für eine Verfassungsänderung, der die Regierung zur Einführung von Sorgfaltspflichten und zivilrechtlicher Haftung verpflichtet hätte, der zuvor im Parlament beschlossene Gegenvorschlag in Kraft, der einige Unternehmen zu Sorgfaltsprüfungen in Bezug auf ausgewählte Themen wie Kinderarbeit und Konfliktrohstoffe verpflichtet. Doch neben Deutschland, wo der Bundestag am 11. Juni 2021 das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes verabschiedete, beschloss auch das Parlament in Norwegen am 10.6.2021 ein Gesetz über Unternehmenstransparenz und Arbeit an grundlegenden Menschenrechten und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen, das Unternehmen ab 50 Mitarbeitenden und bestimmtem Umsatz / Jahresbilanz dazu verpflichtet, ihre menschenrechtlichen Risiken zu untersuchen, ihnen zu begegnen und ggf. Wiedergutmachung zu gewähren. Die Unternehmen müssen darüber berichten und die Verbraucherschutzbehörde kann bei Verstößen Bußgelder verhängen.
Auch in Österreich, Belgien und den Niederlanden liegen Vorschläge des Parlaments für Sorgfaltspflichtengesetze vor; In Finnland, Luxemburg und den Niederlanden haben die Regierungen angekündigt, entsprechende Gesetze zu entwickeln.
Der europäische Dachverband European Coalition for Corporate Justice (ECCJ) verfolgt die Entwicklungen in der EU intensiv und berichtet kontinuierlich darüber.